Müssen Arbeitnehmer immer erreichbar sein?
Wer sich nach seiner täglichen Arbeitszeit von seinen Kollegen verabschiedet, beginnt seine gesetzlich verbriefte Ruhezeit. Diese ist Bestandteil des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG), das für Angestellte, Arbeiter und Auszubildende Anwendung findet. Der Gesetzgeber hat darin Höchstarbeitszeiten und Ruhepausen, das Beschäftigungsverbot an Sonn- und Feiertagen sowie Ausnahmen für bestimmte Berufsgruppen verankert.
Die Ruhezeit beträgt nach dem Arbeitszeitgesetz (ArbZG) mindestens 11 Stunden bei maximal 10 Stunden werktäglicher Arbeitszeit. Dabei darf durchschnittlich innerhalb von 6 Monaten höchstens 8 Stunden pro Tag gearbeitet werden. Arbeitnehmer, die nicht besonderen Berufsgruppen angehören, müssen während der Ruhezeit in der Regel keine Nachrichten und Aufträge des Arbeitgebers entgegennehmen.
Anders liegt der Fall bei besonderen Berufsgruppen wie beispielsweise Gastronomen, Kranken- oder Pflegepersonal, Beschäftigte mit Rufbereitschaft bzw. Bereitschaftsdienst etc. Bei diesen Ausnahmen kann die Erreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit im Arbeitsvertrag oder einer Betriebsvereinbarung geregelt sein.
Nachricht zu kurzfristiger Einsatzplanung ignoriert
Im konkreten Fall klagte ein Notfallsanitäter, der laut Betriebsvereinbarung zusätzlich zu seinen regulären Diensten zu Springereinsätzen eingeteilt werden durfte. Auf diese Weise wurden kurzfristige Ausfälle von Kollegen kompensiert. Vereinbart war in der Betriebsvereinbarung, dass die Arbeitgeberin am Vortag bis spätestens 20.00 Uhr den spontanen Springerdienst mit Ort und Uhrzeit konkretisiert:
- Die Arbeitgeberin hatte den Mitarbeiter für den 08.04.2021 06.00 Uhr zu einem Springerdienst eingeteilt.
- Sein vorangegangener Dienst am 06.04.2021 endete um 19.00 Uhr.
- Während des freien Tages am 07.04.2021 versuchte die Arbeitgeberin ihren Mitarbeiter erfolglos zu erreichen und schickte ihm um 13.27 Uhr eine SMS mit den entsprechenden Einsatzinformationen.
Damit hatte die Arbeitgeberin den Dienst gemäß Betriebsvereinbarung angewiesen. Der Notfallsanitäter reagierte auf keinen Kontaktversuch (telefonisch und per SMS) und erschien zu seinem regulären Dienst am 08.04.2021 um 07.30 Uhr. Daraufhin ermahnte ihn die Arbeitgeberin und zog ihm elf Stunden von seinem Arbeitszeitkonto ab, da sie zwischenzeitlich einen Kollegen eingesetzt hatte.
Als der Notfallsanitäter auch einen weiteren Springerdienst am 15.09.2021 wegen erfolgloser Benachrichtigung zu spät antrat, mahnte die Arbeitgeberin ihn wegen unentschuldigten Fehlens ab. Zusätzlich nahm sie eine weitere Kürzung von 1,93 Stunden in seinem Arbeitszeitkonto vor.
Vereinbarte Nachrichten müssen entgegengenommen werden
Der Sanitäter klagte auf Korrektur seines Arbeitszeitkontos sowie auf Entfernung der Abmahnung aus seiner Personalakte. Er argumentierte, in seiner Freizeit sei er nicht verpflichtet, sein Smartphone auf Nachrichten der Arbeitgeberin zu prüfen.
Das Arbeitsgericht Elmshorn wies die Klage ab. Der Kläger legte daraufhin Berufung ein und war vor dem Landgericht Schleswig-Holstein erfolgreich. Die Richter urteilten, ein Arbeitnehmer müsse sich in seiner Freizeit weder nach Dienstplanänderungen erkundigen, noch Nachrichten der Arbeitgeberin entgegennehmen. Der Kläger sei erst mit Arbeitsbeginn zur Kenntnisnahme dienstlicher Nachrichten verpflichtet.
Dieser Argumentation konnten die Richter am Bundesarbeitsgericht (BAG) nicht folgen (BAG, 5 AZR 349/22). Dem Kläger sei bekannt gewesen, dass die Arbeitgeberin mögliche Springereinsätze am Folgetag bis zum Abend des Vortags konkretisieren würde. Er hätte daher die Weisung in Bezug auf den zugeteilten Dienst am 8. April 2021 zur Kenntnis nehmen müssen. Eine ununterbrochene Erreichbarkeit sei dafür nicht erforderlich gewesen.
Keine ganztägige Dienstbereitschaft erforderlich
Es sei dem Kläger überlassen gewesen, wann und wo er die SMS lesen wollte, mit der ihn die Arbeitgeberin über den Einsatz informierte. Der Mitarbeiter war keineswegs verpflichtet, sich den gesamten Tag dienstbereit zuhalten. Da bekannt war, dass die Konkretisierung bis spätestens um 20.00 Uhr des Vorabends erfolgen würde, hätte es ausgereicht, einmalig mögliche Nachrichten zu prüfen. Das Checken des Nachrichtenspeichers sei dabei nicht als Arbeitszeit zu werten.
Der Kläger hatte zudem argumentiert, dass es sich um Abrufarbeit handle, die mindestens 4 Tage im Voraus anzukündigen sei. Die Richter widersprachen dieser Einschätzung. Es läge hier kein Abrufarbeitsverhältnis vor, weil der Notfallsanitäter von seinem Einsatzgewusst habe. Lediglich Ort und Zeit waren noch unbekannt.
EU-weites Recht auf Nichterreichbarkeit in Planung
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist nicht auf alle Arbeitsverhältnisse anwendbar. Es handelt sich bei dem konkreten Fall um die Einsatzplanung als Springer im Rettungsdienst, für die eine bestehende Betriebsvereinbarung entscheidend ist. Im Regelfall gilt: In Deutschland gibt es offiziell weder ein Recht auf Nichterreichbarkeit, noch eine gesetzliche Pflicht zur Erreichbarkeit außerhalb der vertraglich oder betrieblich vereinbarten Arbeitszeiten.
Zukünftig sollen Beschäftigte EU-weit besser vor physischen und psychischen Beeinträchtigungen durch ständige Kontaktaufnahme der Arbeitgeber geschützt werden. Untersuchungen haben gezeigt, dass der Zwang zur ständigen Erreichbarkeit die Gefahr von Depressionen, Angstzuständen und Burnout erhöht. Das Europäische Parlament plant daher, das Recht auf Nichterreichbarkeit als Grundrecht zu verankern. Arbeitnehmer sollen keine Konsequenzen mehr zu befürchten haben, wenn sie Anfragen und Aufträge des Arbeitgebers in der Freizeit nicht beantworten.
Mit einem gesetzlich verankerten Recht auf Nichterreichbarkeit folgten bisher Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und die Slowakei dem gemeinsamen Beschluss des Europäischen Parlaments.