Verletzung einer Radfahrerin bei Rettungseinsatz
Ein Rettungswagen war in Ostfriesland mit eingeschaltetem Martinshorn unterwegs und musste in einer schmalen Straße mehrere Radfahrer überholen. Die 72-jährige Klägerin, die ebenfalls mit dem Rad unterwegs war, schätzte die Situation als gefährlich ein. Daher entschied sie sich, dem Fahrzeug zu Fuß auszuweichen. Während sie eilig von ihrem Fahrrad abstieg, stürzte sie. Dabei erlitt die Klägerin eine Fraktur des rechten Sprunggelenks und eine Fraktur des Mittelfußknochens.
Zur Stabilisierung des Bruchs war ein Gipsverband notwendig, den die Geschädigte zwei Wochen lang tragen musste. Im Anschluss förderten zwei Monate lang ein spezieller Stiefel und weitere 10 Wochen lang ein verstärkter Strumpf die Heilung. Zusätzlich war ihr eine physiotherapeutische Behandlung verordnet worden.
Die Radfahrerin forderte von dem Rettungsdienst eine Entschädigung, auch wenn es nicht zum Kontakt mit dem Fahrzeug gekommen war. Das Landgericht (LG) Aurich lehnte jedoch aus diesem Grund eine Haftung des Rettungsdienstes ab. Die Klägerin ging in Berufung.
OLG Oldenburg spricht Radfahrerin Schadensersatz zu
Das Oberlandesgericht Oldenburg änderte das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Aurich ab.
Die Richter des OLG Oldenburg stellten fest, dass es zwischen dem Rettungswagen und der Radfahrerin während des Überholvorgangs zwar nicht zur Kollision kam, der Einsatz jedoch zu ihrem Unfall beigetragen habe. Schließlich habe erst das überholende Fahrzeug die Klägerin veranlasst, abzusteigen. Trotz des frühzeitigen Einschaltens des Martinshorns bestünden daher Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen die Beklagten.
Das OLG Oldenburg ermittelte:
- 2.400 EUR Schmerzensgeld
- 4.200 EUR Haushaltsführungsschaden
- 453,87 EUR vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten
- Zinsforderungen gemäß §§ 288 Abs. 1, 291 BGB
- 4.327,98 EUR Gesamtschaden
Die Betriebsgefahr des Rettungswagens hatte das Gericht mit 20 % bewertet, sodass sich ein Betrag von 860,60 EUR ergab.
Ein Feststellungsanspruch für künftige Schäden bestand nicht, da der Heilungsprozess nach ärztlichem Attest beendet war.
Der Anspruch auf Schmerzensgeld ergibt sich aus § 253 Abs. 2 BGB, dem Versicherungsvertragsgesetz § 115 Abs. 1 VVG und dem Pflichtversicherungsgesetz 1 S. 1 PflVG.
Betriebsgefahr des Rettungsfahrzeugs
Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte bereits 2016 festgestellt, dass ein Unfall durch ein Fahrzeug (mit-)veranlasst wird, wenn ein Fahrradfahrer während eines Ausweichmanövers stürzt (22.11.2016,VI ZR 533/15). Auch im aktuellen Fall sahen es die Richter als erwiesen an, dass der Unfall sich während des Überholvorgangs des Rettungsfahrzeugs ereignet habe. Die Klägerin sei im unmittelbaren Zusammenhang (zeitlich und örtlich) mit dem Einsatz verletzt worden.
Der Umstand, dass das Fahrzeug die Klägerin nicht gestreift habe, ändere an der Haftung nichts. Es genüge, wenn der Wagen mittelbar durch die Fahrweise oder andere Umstände für das Unfallgeschehen verantwortlich sei. Wichtig sei auch nicht, ob die Reaktion der Klägerin erforderlich gewesen war, um eine Kollision zu vermeiden. Es sei vielmehr entscheidend, dass die Geschädigte den Rettungswagen aufgrund der Verkehrssituation als gefährlich einstufte, woraus sich der Unfall mit Personenschaden entwickelte.
Das OLG Oldenburg erkannte daher die o. g. Ansprüche auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gegen die Beklagten an (17.05.2022 – 2 U 20/22). Die Entscheidung ist rechtskräftig, eine Revision wurde nicht zugelassen.